Warten auf den großen Durchbruch: Die Smartphone-App auf Rezept
31. Mai 2022 Veröffentlicht von Raphael DoerrEigentlich war es eine gute Idee, die der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn Ende 2019 hatte, als er die „App auf Rezept“ einführte. Als Weltneuheit vom Minister beworben, waren die Erwartungen der Verantwortlichen entsprechend hoch. Die digitale Gesundheitsanwendung, kurz DiGA genannt sollte ein Leuchtturm-Projekt im Kontext der Digitalisierung des Gesundheitswesen werden. Die Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) übernahmen die Kosten für die Apps, die als Medizinprodukte niedriger Klasse nur vom Arzt oder der Kasse auf Rezept verschrieben werden konnten. Befeuert wurde die Idee durch den Boom der Gesundheits- und Fitness-Apps, die Google und Apple auf ihren Plattformen millionenfach zum Download anbieten. Laut einschlägigen Prognosen könnte der mobile Gesundheit-App-Markt bis zum Jahr 2025 auf rund 11,2 Milliarden US-Dollar anwachsen. Ebenso wichtig ist Tatsache, dass die Mehrzahl der Patienten:innen im Besitz eines Smartphones ist, denn ohne machen die Apps wenig Sinn. Doch wie es scheint, hinkt die „App auf Rezept“ noch immer hinter den eigenen Erwartungen her.
Im Gegensatz zu den Top-40 der rezeptfreien Gesundheits-Apps, die gut laufen und allein in 2020 ca. 2,4 Millionen Mal heruntergeladen wurden, fällt die Durchdringung mit DiGA eher bescheiden aus, zu diesem Ergebnis kommt eine deutschlandweite Befragung der Stiftung Gesundheit. Bis Ende September 2021 zählten die Ersatzkassen (TK, Barmer, DAK, KKH, hkk und HEK) etwa 24.000 Zugangscodes aus. Bei ca. 28 Millionen Versicherten entspricht dies einer Durchdringung von unter 0,1 Prozent. Nicht gerade viel für eine Weltneuheit. Digitale und ärztliche Versorgung finden nur langsam zusammen. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Befragung des Marktforschungsinstitutes YouGov im Auftrag der SBK. Demnach haben bislang erst zwei Prozent der Menschen eine App auf Rezept erhalten, nur acht Prozent wurden durch einen Arzt über die Möglichkeit zur Nutzung einer Digitalen Gesundheitsanwendung (kurz DiGA) aufgeklärt. Und wie sehen es die Patienten:innen? Kennen sie die medizinischen Smartphone-Apps und würden sie diese auch nutzen? Wir machen hierzu einen kurzen Fakten-Check.
Status Quo
Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) stehen seit mehr als einem Jahr flächendeckend als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zur Verfügung. Sie sind Medizinprodukte niedriger Risikoklassen. Bis Ende September 2021 wurden schätzungsweise ca. 50.000 DiGA verordnet beziehungsweise von den Krankenkassen genehmigt. Die gesetzlichen Krankenkassen haben dafür seit dem Herbst 2020 rund 13 Millionen Euro ausgegeben. Das geht aus einem neuen Bericht des GKV-Spitzenverbandes hervor. Mittlerweile gibt es laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 31 medizinische Apps, wie der Münchner Merkur berichtet. „Grundsätzlich sollen die Programme erkrankten Personen über ihre Krankheit informieren, Präventionsmaßnahmen bieten und bei Training oder Ernährung unterstützen“, erklärt die Verbraucherzentrale.
Wie das geht zeigt der aktuelle Beitrag „Gesund werden mit einer App“ vom SWR, den man sich in der Mediathek ansehen kann, recht anschaulich. Gezeigt wie die Geschichte der 40ig jährigen Lina K., die seit Jahren unter starker Migräne leidet und nun mit Hilfe einer Migräne App, die ihr der Arzt verschrieben hat, ihr Leben wieder in den Griff kriegen will. Die digitalen Anwendungen zielen darauf ab, kranke Menschen bei der Therapie zu begleiten oder die Wartezeit auf einen Arzttermin zu überbrücken. Vor allem helfen die Apps auf Rezept, die Symptome einer Erkrankung zu lindern, die Erkrankung besser zu verstehen und eigenverantwortlich mit ihr umzugehen.
Und genau das unterscheidet sie auch von den rezeptfreien Apps. „Anders als beispielsweise Fitness-Apps müssen DiGa geprüft und zugelassen werden. Erst dann kann der Arzt sie verordnen und die Krankenkasse übernimmt die Kosten“, schreibt Dr. Tanja Katrin Hantke, Gesundheitsexpertin der Krankenkasse „vivida bkk“. Aktuell werden die Apps bei Krankheiten wie Diabetes*, Krebs oder Bluthochdruck eingesetzt.
Der Ton wird rauer
Die Akzeptanz und Unterstützung bei den Ärzten für die DiGA ist relativ groß, sie kennen die Apps und sind damit auch vertraut. „Mehr als 80 Prozent der Ärzte sind mittlerweile mit den Apps auf Rezept vertraut“, berichtet Prof. Dr. Dr. Konrad Obermann, Forschungsleiter der Stiftung Gesundheit. „Und etwa jeder fünfte Arzt hat bereits praktische Erfahrungen mit diesem neuen Instrument gesammelt.“ Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) sind auf dem Weg, ein etablierter Teil der Gesundheitsversorgung zu werden. Zu diesem Ergebnis kommt die repräsentative Studie „Ärztinnen und Ärzte im Zukunftsmarkt Gesundheit 2021/2“, die die Stiftung Gesundheit Mitte Dezember veröffentlicht hat.
Doch der Ton in der Diskussion über Nutzen und Mehrwert wird rau. Die GKV bemängelt aktuell die zu hohen und intransparenten Kosten für die Gesundheits-Apps. Im Schnitt lagen die von den Anbietern im ersten Jahr frei festlegbaren Preise bei rund 400 Euro im Quartal, wie es in einem am 1.3.2022 veröffentlichten Bericht des GKV-Spitzenverbands heißt. „Das Preisspektrum dieser neuen digitalen Gesundheitsanwendungen auf Kassenkosten reichte demnach von 119 Euro für eine Einmallizenz bis zu 743,75 Euro für einen Freischaltcode für eine Anwendungsdauer von 90 Tagen.“
Die Nachfrage ist eher verhalten
Das Interesse unter den Patienten:innen ist durchaus vorhanden, wenn auch im in einem wohl eher überschaubaren Rahmen. Die AOK PLUS hat nach aktuellen Angaben seit Oktober 2020 bereits mehr als 1.900 Versicherten die Nutzung einer DiGA ermöglicht, schrieb das Ärzteblatt im Herbst 2021. „Jeder vierte teilnehmende Versicherte der AOK PLUS nutzt demnach eine App zur Unterstützung bei chronischem Tinnitus. Auch Anwendungen für Patienten mit Rücken-, Knie- und Hüftschmerzen (15 Prozent), Adipositas (13 Prozent) oder Migräne (11 Prozent) werden häufig in Anspruch genommen.“
Die internen Zahlen der Siemens Betriebskasse (SBK) bestätigen die verhaltene Nachfrage nach DiGAs, zeigen allerdings auch einen stetigen Aufwärtstrend: Bis Ende April 2021 wurden den über eine Million SBK-Mitgliedern insgesamt 349 DiGAs genehmigt. Ein Viertel davon wurde direkt von der SBK und ohne ärztliche Verordnung genehmigt. Und die Apotheken Umschau schreibt: „Kaum Empfehlungen für DiGA. DiGA sind Stand heute zwar etwas bekannter, werden aber offenbar weniger häufig empfohlen oder verschrieben. Rund 71 Prozent der Befragten gaben an, noch nie eine App empfohlen zu haben. Das sind rund drei Prozent mehr als noch vor einem Jahr. Dieses Ergebnis deckt sich mit der Anzahl an Verschreibungen: Fast 86 Prozent aller Befragten haben noch nie eine DiGA auf Rezept verschrieben, 2020 waren es sogar 99 Prozent.“
Alt, arm und misstrauisch
Hinzu kommt, dass gerade alte und arme Menschen der digitalen Medizin und damit auch den Gesundheits-Apps misstrauen, wie das Handelsblatt im Juli letzten Jahres schrieb: „Sie finden eine Gesundheits-App, laden diese herunter, verstehen die Funktionsweise. Danach legen sie das Handy aber wieder beiseite, weil sie der Anwendung misstrauen.“ Ob der digitale Wandel im Gesundheitswesen funktioniert, fällt und steigt mit der Akzeptanz der Technik in der Bevölkerung. Forscher des Leibniz-Instituts Digital Public Health aus Bremen haben 1014 Personen gefragt, wie sie Technologien für ihre Gesundheit bewerten und nutzen. Ein Ergebnis: Alte, arme Menschen ohne einen akademischen Abschluss verzichten auf Apps, Online-Trainings oder Informationsangebote für ihre Gesundheit.
Smartphones können in Verbindung mit Gesundheits-Apps vor allem älteren Menschen helfen, Krankheiten zu vermeiden. Genutzt werden sie jedoch nur selten. In den USA beispielsweise verzichten 56 Prozent der Älteren darauf, obwohl sie es am ehesten nötig hätten. Dies ist das Ergebnis einer Umfrage, die vom Institut für Gesundheitspolitik und Innovation der Universität von Michigan zugeführt wurde.
Geringe Akzeptanz an Gesundheits-Apps
Die Apps überwachen viele gesundheitlich relevante Werte – vom Kalorienverbrauch über Bewegung bis hin zu Blutdruck und Blutzucker, um Benutzern zu helfen, chronische Erkrankungen zu lindern oder bestimmte Gesundheitsziele zu erreichen. Eine Telefonumfrage unter mehr als 2.100 Amerikanern zwischen 50 und 80 Jahren zeigt: Weniger als die Hälfte (44 %) der Menschen im Alter von 50 bis 80 Jahren haben jemals eine gesundheitsbezogene App auf ihrem Smartphone, tragbaren Gerät oder Tablet genutzt, so die neuen Ergebnisse der Umfrage der National Poll on Healthy Aging. Die Hälfte derjenigen, die noch nie eine Gesundheits-App genutzt haben oder sie nicht mehr nutzen, gaben an, dass sie nicht daran interessiert sind, sie zu nutzen.
Der Anteil der älteren Erwachsenen, die derzeit mindestens eine App nutzen, ist mit 28 % sogar noch geringer. Ein Drittel nutzt eine App zur Verfolgung der körperlichen Aktivität, während deutlich weniger Menschen Apps verwenden, um Gewicht, Ernährung oder Blutdruck im Auge zu behalten, zu meditieren oder psychische Gesundheit und Stress zu bewältigen. Ein Viertel der aktuellen Nutzer hat angegeben, mehr Informationen aus ihren Apps an Ärzte übermittelt zu haben.
Aufklärung wäre hilfreich
„Ärzte sollten überlegen, ob sie mit ihren Patienten nicht über die Verwendung von Gesundheits-Apps sprechen sollten“, schlägt Preeti Malani vor, Facharzt für Infektionskrankheiten und Geriatrie an der University of Michigan. Auch wenn sich diese Aussage auf amerikanischen Markt bezieht, schlecht wäre es auch hierzulande nicht, wenn die Verantwortlichen der DiGA die Patienten:innen gezielter und aufklären würden. Vor allem ältere Menschen, denn das könnte die Nutzungsrate verbessern. Viele Menschen wissen es gar nicht, dass es diese Möglichkeiten gibt und wenn sie es wissen, können sie die App auf dem Smartphone möglicherweise nicht richtig bedienen. Denn eine Tatsache sollte man nicht vergessen, unsere Gesellschaft wird älter, und damit wird möglicherweise auch die Nutzung digitaler Angebote, vor allem im Gesundheitsbereich, schwieriger. In den USA hat ein Drittel aller Befragten der Umfrage der National Poll on Healthy Aging angegeben, dass sie nie darüber nachgedacht haben, solche Apps zu verwenden.
Was die Sache erschwert und darüber hat der Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche – Bitkom e.V. bereits letztes Jahr geschrieben: „Mehr als die Hälfte der Menschen über 65 Jahren in Deutschland nutzt kein Smartphone. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Studie anlässlich des zweiten bundesweiten Digitaltags, wie die Initiative „Digital für alle“ mitteilt. Demnach verwenden 53 Prozent der Befragten über 65 Jahren kein solches Gerät. In der Altersgruppe zwischen 65 und 74 Jahren liegt der Anteil bei 36 Prozent, in der Gruppe über 75 Jahren mit 74 Prozent nochmals deutlich höher“.
Was ist der Unterschied zwischen einer „App auf Rezept“ und einer rezeptfreien Gesundheits-App?
Die Verbraucherzentrale unterscheidet zwischen diesen Gesundheits-Apps:
- Sogenannte „Lifestyle“-Apps, z.B. Fitnesstracker, Ernährungs- und Bewegungs-Apps: Sie können dabei helfen, gesundheitsbewusstes Verhalten zu unterstützen.
- Service-orientiertere Apps erinnern an die Einnahme von Medikamenten, überwachen den Impfstatus, erinnern an Früherkennungsuntersuchungen, bieten die Möglichkeit, Arzttermine zu vereinbaren oder dienen als Tagebuch der Symptom- oder Verlaufskontrolle bei einer Erkrankung.
- Daneben gibt es medizinische Apps, die der Diagnose und/oder Therapie einer Erkrankung dienen, wie z.B. der Auswertung von Blutzuckerwerten. Medizinische Apps müssen als Medizinprodukt zugelassen und mit dem CE-Kennzeichen versehen sein.
Und die Apotheken Umschau schreibt: „Gesundheits- oder Lifestyle-Apps unterliegen auf dem freien Markt keiner Pflicht zur Nutzenprüfung oder zur Kontrolle von Qualität und Datenschutz. Digitale Gesundheitsanwendungen dagegen durchlaufen immer ein Bewertungsverfahren des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).“