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Quelle: Rockabilly-rules.com

Multiphone Jukebox: Wie die Menschen über das Telefonnetz Musik hörten

11. Januar 2022 Veröffentlicht von Raphael Doerr

Die Multiphones erfüllten Musikwünsche über das Telefon, lange bevor es Spotify & Co. gab. Die ersten Geräte kamen 1939 auf den Markt. Zu dieser Zeit drehten sich in den Jukeboxen höchstens 24 Platten und das hieß: es gab auch  nur 24 Wahlmöglichkeiten. Eine mickrige Auswahl und eine lausige Ausbeute, wenn man mit seinen Freunden auf den Putz hauen wollte und in der Bar oder im Diner um die Ecke den Abend verbringen wollte. Mit dem Multiphone hingegen, konnte man die sensationelle Anzahl von 170 Stücken abrufen und über einen Lautsprecher hören. Was man heute unter „Musik-Sharing“, „Music-on-demand“ oder „Musik-Streaming“ versteht, hieß damals Multiphone und das Telefon spielte dabei eine wichtige Rolle. Zwar gab es noch keine DECT Telefone von Gigaset, aber die Tonqualität war durchaus hörenswert. In diesem Blogbeitrag wollen wir die Multiphones und  die Idee dahinter noch einmal zum Drehen bringen.

So könnte es gewesen sein

Ich werfe den Nickel in den Schlitz des geschrumpften Empire State Buildings, das auf dem Tisch im Diner steht. Ich höre ihn fallen, ein mechanisches und lautes ´Klonk´. Dann leuchten zwei Lichter auf, rot und gelb. Die Leitung steht. „Hallo, welche Nummer darf ich spielen?“ Die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung höre ich aus dem Lautsprecher des Art Déco-Buildings. Sie ist warm, gar nicht blechern und gut zu verstehen. „Ich hätte gerne die 163,“ nuschle ich, während ich meine Pommes Frites in die Ketchup Sauce tunke. „Einen Augenblick bitte.“ Am anderen Ende der Telefonleitung meldet sich Joyce, so nenne ich die Platten-Lady in meiner Vorstellung. „Ich spiele jetzt die Nummer 163.“ Die Stimme ist weg, dafür höre ich jetzt Gene Autry, mit seinem unverwechselbaren Ai-ai-ai-ai (ai-ai-ai-ai) Ai-ai-ai-ai (ai-ai-ai-ai) Ai-ai-ai-ai aus dem Lautsprecher säuseln. „South of the Border“, ist die Nummer 163, die ich ausgewählt habe und die das Multiphone im Diner von Ed Doughnaty  in Washington D.C., 1939 spielt.

„South of the border, down Mexico way, That’s where I fell in love. When the stars above came out to play. South of the border, I rode back one day. South of the border, down Mexico way. Ai-ai-ai-ai (ai-ai-ai-ai) Ai-ai-ai-ai (ai-ai-ai-ai) Ai-ai-ai-ai.“

Klasse Song, heile Welt. Seit Ed die Dinger in seinem Diner aufgestellt hat, ist der Laden auch Werktags immer rappelvoll. Die jungen Leute drängen in Scharen herein, hören die neueste Musik, essen ihre Big Macs und Cheese Burger, lachen, diskutieren und haben jede Menge Spaß. That´s life. Ich selbst war 1939 nicht dabei, aber so ähnlich könnte es sich abgespielt haben. Joyce, die Stimme in der Telefonleitung weiß es besser, denn sie war dabei, ein paar Jahre später. Sie gehörte zu einem kleinen Heer von Frauen im Bundesstaat Washington, die als DJs für Multiphones, telefonbasierten Jukeboxen arbeiteten. Diese Geräte waren das Spotify ihrer Zeit und boten das, was manche als die früheste Form des kommerziellen Streamings bezeichnen würden. „Eine ziemlich verrückte Erfindung für ihre Zeit,“ waren sie aber definitiv.

Eine undatierte Aufnahme der jungen, weiblichen DJs in Shyvers Multiphone Studio in der Seattle-Tacoma. Bild © COURTESY JOHN BENNETT

Die verrückte Erfindung beschreibt John Bennett, Multiphone-Sammler und Experte aus Seattle so: „Man steckte eine Münze in das Multiphone und hörte eine Hostess am anderen Ende der Telefonleitung aus der Zentrale durch den Lautsprecher fragen: „Welche Nummer, bitte?“ Man sagte dann die Nummer und den Titel, den man hören wollte: „Ich möchte Nummer 202, ‚Fools Such As I‘.“ Dann nahm die Hostess die Platte aus dem Regal, legte sie auf den Plattenspieler, und spielte sie ab. Jede Multiphone-Box hatte einen Plattenspieler, der ihr zugeordnet war und nur der spielte die Musik ab, die der Kunde sich wünschte. Und der konnte zwischen 170 Songs auswählen. Das war’s.“ So beschreibt es der Multiphone-Experte John Bennett aus Seattle. Die Tonqualität der Telefonleitungen war zu diesem Zeitpunkt so gut, dass die großen Jukebox-Hersteller dachten, ihre Phonographen-Jukeboxen könnten schon recht bald veraltet sein, wenn sie nicht rechtzeitig auf den Zug aufspringen würden und sich auf die kabelgebundene Musik über die Telefonleitung einließen. Bennett, der Jukebox City, ein Geschäft für alte Jukeboxen im Stadtteil Georgetown, betreibt, ist selbst ein Multiphone-Sammler. In den 1980er Jahren kaufte er etwa 500 Multiphones, auf und verkaufte sie in seinem Antiquitätengeschäft. Damals wurden Multiphones noch für 100 Dollar pro Stück verkauft, heute kosten sie fast 3.000 Dollar, falls man überhaupt noch eine bekommt, denn von den damals rund 8.000 Exemplaren, die im Betrieb waren, haben höchstens 1.000 Stück überlebt.

Live-Musik über das Telefon

Bevor münzbetriebene Musikautomatenfirmen mit der Entwicklung von Telefonleitungssystemen begannen, die mit bestehenden Jukeboxen verwendet werden konnten, wurden in Frankreich bereits vierzig Jahre zuvor Telefonleitungen für ähnliche Zwecke verwendet. Clement Agnes Ader erfand 1881 das „Theatrophone“, das Töne an 48 Zuhörer gleichzeitig senden und übertragen konnte. Bei der Demonstration der Erfindung konnte die Opera de Paris über verschiedene Telefonleitungen durch die Kanalisation an 48 Zuhörer im nahe gelegenen Palais de l‘Industrie übertragen werden und war damit das erste öffentlich-rechtliche Unterhaltungssystem. Diese moderne Art, Opern zu hören, fand bald begeisterte Anhänger. Musikliebhaber aus dem viktorianischen Zeitalter, König Luis I. von Portugal und der berühmte französische Schriftsteller Marcel Proust hörten über das Theatrophone aus der Ferne die Live-Aufführungen an der Pariser Oper. „Nach der Präsentation auf der Pariser Weltausstellung von 1889 wurde das »Theatrophon« in Frankreich kommerziell genutzt und in Hotels, Restaurants und Clublokalen aufgestellt. In der Regel handelte es sich dabei um kleine Hörkabinette, in denen mehrere Besucher mit jeweils zwei Hörern zeitgleich einer Opernaufführung lauschen konnten. Zwei Leitungen wurden für den stereofonen Empfang der Darbietungen genutzt. Eine dritte Leitung diente zur Kommunikation zwischen dem Benutzer und dem Veranstalter.

Einige Zeit später im Jahr 1895 entwickelte die Universal Telephone Co. in London ein britisches Äquivalent, das als „Elektrophon“ bekannt ist. Münzschlitze wurden sowohl für das Theatrophone als auch für das Electrophone hergestellt und in Salons, Hotels und Restaurants in mehreren großen Städten in Großbritannien und Frankreich platziert, genau wie damals Jukeboxen. Diese beiden Telefonleitungssysteme zusammen mit münzbetriebenen Phonographen ermöglichten die Entstehung der Idee des Multiphones. Der erste bespielte münzbetriebene Phonograph wurde 1889 bei einer öffentlichen Vorführung im Palais Royal Restaurant in San Francisco vorgestellt. Louis T. Glass, der Betreiber dieses ersten Modells, gilt bis heute als „Vater des Konzepts“.

Shyver´s Erfindung

Das Multiphone von Ken Shyver grenzte sich durch seine viel größere Auswahl von diesen bisherigen Musik-Telefonleitungssystemen ab. Die Benutzer konnten aus bis zu 170 verschiedenen Auswahlmöglichkeiten wählen, im Gegensatz zu den durchschnittlichen automatischen Münzphonographen der Zeit, die den Benutzern höchstens 24 Möglichkeiten boten. Das System wurde in Cafés und Diners in Städten im Nordwesten populär, einschließlich Shyvers Heimat Seattle. Viele Diners und Cafés haben das Multiphone entweder an der Bar oder an einzelnen Ständen für die Kundennutzung installiert.

Das Multiphone benötigte dann zwei gemietete Telefonleitungen: eine für das Gerät selbst, die mit der Shyver-Bibliothek in Seattle verbunden war, und eine für die Lautsprecher. In der zentralen Musikbibliothek in Seattle verwaltete ein Team weiblicher Discjockeys alle Anfragen der Multiphone-Benutzer und legte die Platten manuell auf. Sobald der Kunde die Münze in das Multiphone einlegte, leuchteten die beiden Lichter auf und zeigten an, dass die Telefonleitung mit der Bibliothek verbunden war, um die Dienste eines Discjockeys zu erhalten. Der Kunde sprach tatsächlich über den kleinen Lautsprecher oben am Multiphone mit dem Discjockey und teilte ihm seine Anfrage über das System mit. Jeder Song hatte eine Nummer, die auf dem Multiphone in einem zylindrischen Gehäuse angezeigt und gedreht werden konnte. Die Architektur des Empire State Buildings in New York diente als Inspiration für die ansprechende Optik des Geräts.

Auf dem Höhepunkt ihrer Popularität waren die Multiphones an 120 Orten in ganz Washington zu finden. Dann, so Bennett, „kamen andere Unternehmen mit diesen wirklich großartigen Stereo-Musikboxen auf den Markt, und Shyvers konnte einfach nicht mit ihnen konkurrieren.“ 1959 waren die Multiphones veraltet und Shyvers zog sie vom Markt zurück.

Song-Liste des Multiphones von 1939. „South of the Border“ von Gene Autry ist auch dabei.

Deep Dive

Zugegeben es war eine etwas schräge Idee die Ken Shyvers seit einiger Zeit in seinem Kopf hin und her jonglierte. Doch was soll´s, der Erfinder der Pinball-Maschinen (bei uns bekannt als Flipper-Automaten) hatte schon ganz andere Dinge gewuppt und so brachte Shyvers 1939 das Multiphone auf den Markt. Seine Idee war ganz einfach: Er wollte seinen Kunden mehr Auswahl und damit mehr Songs bieten als die bekannten Jukeboxen von Wurlitzer, Rock Ola, und Co. die bis dato den Markt dominierten. Die ersten Exemplare nannte man 1889 noch „Nickel-in-den-Schlitz-Spieler“. Weil sie in verruchten Gegenden standen, wurden sie bald zur Jukebox. Die machte die Popmusik zum Global Player. Premiere hatte die Jukebox denn auch in der Palais Royal in San Francisco. Zur Vorführung eingeladen hatte wieder Louis Glass, der in den 1880er-Jahren den Phonograph erfunden hat. Glass machte daraus eine großartige Geschäftsidee. Er packte den Phonographen in eine Kiste und schloss zehn stethoskopähnliche Lautsprecher daran an. Was da herauskam, rauschte und krächzte zwar vernehmlich, war aber tatsächlich Musik. Glass scheute sich nicht, für diesen Genuss fünf Cent, einen Nickel, zu nehmen.“

Die Jukebox und das Multiphone sorgten für ein gemeinsames Hörerlebnis. So wie wir im 21. Jahrhundert unsere eigenen Versionen des gemeinsamen Hörens durch das Teilen von Musik im Internet und mit iPods haben, hatten die Menschen der 1930er und 1940er Jahre münzbetriebene Musikplayer. Obwohl der Erfolg des Multiphones diese Art von Gemeinschaftserlebnis ebenso wie Jukeboxen ermöglichte, besiegte die Jukebox schließlich das Multiphone als bevorzugten münzbetriebenen Musikplayer. Als das Multiphone entwickelt wurde, war seine Fähigkeit, den Hörern eine Auswahl von 170 Titeln zu geben, viel größer als die der verfügbaren Jukeboxen, aber schließlich wurden neue Technologien entwickelt, die den Jukeboxen eine größere Songkapazität ermöglichten. Wer Glück hat, der findet vielleicht auf einem Flohmarkt oder bei eBay noch ein Multiphone. Die passende Geschichte ist ja jetzt bekannt.

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